Der Bund für Umwelt und Naturschutz möchte die Energieerzeugung aus Braunkohle so früh wie möglich beenden. Doch der fossile Energieträger wird immer noch gebraucht, um eine zuverlässige Strom- und Fernwärmeversorgung zu sichern. Und für den notwendigen Strukturwandel in den Braunkohleregionen gibt es bisher kein Konzept.

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Das Braunkohle-Großkraftwerk Lippendorf liefert nicht nur bedarfsgerechten Strom für das Übertragungsnetz, sondern auch Fernwärme für Böhlen, Leipzig und Neukieritzsch. Foto: Stefan Schroeter


Wenn es nach Felix Ekardt geht, muss die Bundesrepublik Deutschland schon in den nächsten Jahren damit aufhören, fossile Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas zu verbrennen. Der Landesvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Sachsen (BUND) setzt sich besonders für einen schnellen Ausstieg aus der Braunkohle ein – den er als „mit Abstand klimaschädlichsten Energieträger“ bezeichnet. Er hält das zum einen für notwendig, um den von Treibhausgasen verursachten weltweiten Temperaturanstieg gegenüber dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert auf 1,5 bis 1,8 Grad zu begrenzen. Auf dieses Ziel hatten sich 195 Staaten auf der Pariser Klimaschutz-Konferenz im Dezember 2015 geeinigt.

Zum anderen weist Ekardt auf Umwelt- und Gesundheitsschäden hin, die vom Einsatz fossiler Brennstoffe ausgelöst werden. „Statistisch sterben im Jahr europaweit 400.000 Menschen an Folgeerkrankungen von Feinstaub“, sagte er bei der Braunkohle-Tagung des BUND im Februar in Leipzig. „Der wesentliche Teil davon ist ausgelöst durch den Einsatz fossiler Brennstoffe in verschiedenen Lebensbereichen – Düngung, Kraftwerke, Individualmobilität.“ Neben den Verlusten an Menschenleben sieht Ekardt auch ein „massives Kostenproblem“, das in einer volkswirtschaftlichen Betrachtung berücksichtigt werden müsste. Die betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise, die es Unternehmen unter den gegenwärtigen gesetzlichen Rahmenbedingungen ermöglicht, mit Braunkohle Gewinne zu erwirtschaften, hält er für nicht ausreichend.

Das Argument, dass die erneuerbaren Energien noch nicht genügend ausgereift seien, um die gleiche Versorgungssicherheit wie Braunkohlestrom zu gewährleisten, lässt der Nachhaltigkeits- und Klimaforscher nicht gelten. „Natürlich weht der Wind und scheint die Sonne nicht immer. Es ist aber in amtlichen Gutachten für die Bundesregierung x-mal vorgerechnet worden, dass man, wenn man ausreichend Anlagen hat, die Netze ein bisschen verstärkt, Speichertechnologien noch ein bisschen voranbringt und sie tatsächlich einsetzt, im Grundsatz kein Versorgungssicherheits-Problem hat. Man müsste die entsprechenden Dinge aber auch mal machen. Die Netze moderat ausbauen und bei den Speichern nicht auf der Bremse stehen, sondern tatsächlich mal vorangehen.“

Dabei räumt der BUND-Landesvorsitzende ein, dass der Verzicht auf fossile Brennstoffe vorübergehend oder auch längerfristig zu höheren Energiepreisen führen könnte. Sie sollten seiner Meinung nach mit Transferzahlungen ausgeglichen werden. Weitere Ideen zu einem geordneten Braunkohle-Ausstieg hat der BUND Sachsen in einem Konzept veröffentlicht.

 

Keine neuen Tagebaue und Kraftwerke

Mit einem Braunkohle-Ausstieg rechnet auch Andreas Berkner, Leiter der Regionalen Planungsstelle Leipzig. Allerdings legt er dabei andere Maßstäbe an und steckt einen wesentlich längeren Zeithorizont ab. „Wenn man sich den Trend anschaut, dann wäre spätestens 2050 mit Braunkohle in Deutschland sowieso Schluss“, sagte Berkner bei der BUND-Tagung. „Dann sind die Vorräte erschöpft, die Kraftwerke verschlissen.“

Für den Südraum von Leipzig und Halle sieht er einen etwas früheren Ausstieg voraus. Hier sind derzeit zwei Tagebaue für die Braunkohle-Verstromung aktiv. Der Tagebau Vereinigtes Schleenhain beliefert vorrangig das Großkraftwerk Lippendorf, das seit dem Jahr 2000 am Netz ist. Aus dem Tagebau Profen kommt die Braunkohle für das Großkraftwerk Schkopau, das 1996 in Betrieb gegangen war. „Das Kraftwerk Lippendorf ist auf einen Zeitraum bis 2040 gerechnet. Schkopau ist noch einen Tick früher dran“ sagte Berkner. „Nach 40 Jahren hat ein Kraftwerk sein Geld verdient, auch wenn man es natürlich länger betreiben kann.“ Für die Zeit nach 2040 gibt es Berkner zufolge deshalb keine Perspektive mehr für die Braunkohle-Verstromung im Südraum, weil dann niemand mehr in der Lage sei, einen Braunkohle-Tagebau neu aufzuschließen oder ein neues Kraftwerk zu bauen. Das ergebe sich aus den derzeit geltenden politischen Vorgaben in Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Ob es künftig noch eine stoffliche Nutzung der Braunkohle geben kann, um beispielsweise Erdölimporte für die Chemieindustrie abzulösen, ließ der Regionalplaner offen. Die Technologien dafür stünden zwar zur Verfügung, die Produktion sei bei den aktuellen Erdölpreisen aber nicht wirtschaftlich. „Wie sich das in zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren darstellt, vermag ich heute nicht zu beantworten.“ In einer einfachen Form wird die stoffliche Nutzung derzeit schon in Amsdorf bei Halle betrieben, wo Braunkohle aus einem kleinen Tagebau zur Wachsproduktion dient.

 

Sichere Stromversorgung

Anders als Ekardt ist Berkner überzeugt davon, dass die Braunkohle noch eine Zeitlang gebraucht wird, bis erneuerbare Energien die notwendige Versorgungssicherheit bei Strom gewährleisten können. „Wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, ist bei der größten installierten Leistung die Ausbeute nahe Null“, argumentierte der Regionalplaner.

Gestützt wird diese Aussage davon, dass es besonders in kälteren Monaten immer wieder weiträumige Wetterlagen mit Windstille und trübem Tageslicht gibt. Zuletzt war das im Januar zu beobachten, als die deutsche Wind- und Solarstrom-Erzeugung deshalb über mehrere Tage ziemlich gering ausfiel und die Braunkohle-Kraftwerke deshalb mit voller Kraft liefen, um den hohen winterlichen Strombedarf zu decken.

„Das heißt, wir können entweder Backup-Kapazitäten haben, oder wir haben Speicher“, folgerte Berkner. „Am besten, beides zusammen. Da sind wir schlicht und einfach noch nicht an dem Punkt.“ Er warnte in diesem Zusammenhang vor einem Blackout – einem großflächigen Stromausfall – den sich in einer Industrie- und Informationsgesellschaft niemand wünschen sollte.

Beim Leipziger Institut für Energie geht Geschäftsführer Werner Bohnenschäfer an diese Frage pragmatisch heran. „Speicher und Netze sind erforderlich, um letztendlich aus den Fossilen auszusteigen“, meinte er. „Ich glaube, für die Energiewende ist es jetzt nicht wichtig, festzulegen, wir steigen 2030 oder 2040 aus der Kohle aus. Sondern aus gegenwärtiger Sicht ist es wichtig, in dem Bereich Speicher und Netze weiter zu kommen. Dann wird sich das andere von selbst erledigen.“

Beim Speicherausbau sieht Bohnenschäfer allerdings zwei wesentliche Probleme: Pumpspeicher-Kraftwerke könnten in Deutschland wegen Naturschutz-Auflagen kaum noch gebaut werden. Wo solche Versuche unternommen würden, zögen sie sich sehr lange hin. Andere Stromspeicher hätten noch Entwicklungsbedarf und seien bisher sehr teuer.


Alternativen für die Fernwärme

Wenn Braunkohle-Großkraftwerke abgeschaltet werden sollen, kommt es nicht nur darauf an, ihre bedarfsgerechte Stromproduktion abzulösen. In vielen Fällen liefern sie auch große Mengen Dampf und Fernwärme an Industrieversorger und Stadtwerke, die dann ersetzt werden müssen. So beziehen die Stadtwerke Leipzig reichlich die Hälfte ihrer Fernwärme aus dem Kraftwerk Lippendorf. Den Braunkohle-Ausstieg vor Augen, arbeitet der kommunale Versorger derzeit an einem strategischen Konzept, welche alternativen Wärmequellen an die Stelle des Großkraftwerks treten könnten. „Da wird keine Alternative außen vor gelassen“, berichtete der Aufsichtsratsvorsitzende des Unternehmens, Norbert Mencke.

Er rechnet in anderthalb Jahren mit Ergebnissen dieses Projekts. Nach seinen Worten richtet sich das Unternehmen schon jetzt darauf ein, an mehreren Standorten dezentrale Block-Heizkraftwerke für den Betrieb mit Erdgas zu errichten. Als ein künftiges Szenario, das derzeit durchdacht und durchgerechnet wird, nannte er die Sicherstellung der Fernwärme-Sommerlast aus erneuerbaren Energien. Möglicherweise könnte auch die bestehende Fernwärme-Leitung von Lippendorf nach Leipzig dazu genutzt werden, alternative Wärmequellen aus dem südlichen Umland in das städtische System einzubinden.


Erneuter Strukturwandel

Mit einem Braunkohle-Ausstieg ist ein weiterer Wandel der Wirtschaftsstruktur in den betroffenen Regionen verbunden – auch wenn er nicht mehr so drastisch ausfallen kann wie der Schrumpfungsprozess zu Beginn der 90 Jahre in Ostdeutschland. Regionalplaner Berkner kann sich noch gut daran erinnern, wie das im sogenannten „Mitteldeutschen Revier“ – also in Westsachsen und Sachsen-Anhalt – ablief. Die Zahl der Tagebaue wurde von 20 auf 3 reduziert, die Kohleförderung schrumpfte auf ein Sechstel und die Zahl der Arbeitsplätze auf ein Zwanzigstel.

Derzeit gebe es in den hiesigen Braunkohle-Tagebauen und -Kraftwerken noch knapp 3.000 Arbeitsplätze, berichtete Berkner. „Die Region Mitteldeutschland wäre sicher in der Lage, den Wegfall zu verkraften. Insofern ist die Situation anders als in der Lausitz.“ In dieser weniger wirtschaftsstarken Region sollen noch 8.000 Beschäftigte ihr Geld direkt mit Braunkohle verdienen.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Julian Schwartzkopff, Politikberater der Umweltorganisation E3G Third Generation Environtalism (Deutsch: Umweltbewegung der Dritten Generation). Er weist zudem darauf hin, dass es nach den bisherigen Erfahrungen für die Beschäftigten der Braunkohle-Industrie besonders schwierig ist, neue Arbeitsplätze zu finden. Zwar gebe es inzwischen mehr Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien als in der Braunkohle. Doch diese Beschäftigung entstehe oft nicht in den Regionen, wo Braunkohle-Arbeitsplätze wegfallen. Typischerweise sei die Entlohnung und die gewerkschaftliche Absicherung geringer.

 

Wegbrechende Einnahmequellen

Auch auf die Gemeinden der Braunkohleregionen sieht Schwartzkopff schwierige Zeiten zukommen. Schon in den vergangenen Jahren hätten sie starke Einbrüche bei den Gewerbesteuer-Zahlungen der Kohleunternehmen hinnehmen müssen. Mit dem Kohleausstieg werde diese Einnahmequelle ganz wegfallen. Hinzu kommen rückläufige Fördermittel aus nationalen und europäischen Programmen, mit denen ostdeutsche Kommunen bisher einen Großteil der ihrer Investitionen bestreiten. „Wenn das wegbricht, und dazu noch der Braunkohle-Ausstieg kommt, dann gibt es für die betroffenen Reviere definitiv die Notwendigkeit, dass man dort Spezialmaßnahmen einrichtet, um die Entwicklung abzufangen“, forderte der Politikberater.

Erste Vorschläge für einen sozialverträglichen Kohleausstieg hat er bereits registriert. So hatte das Beratungsinstitut Agora Energiewende im Januar 2016 vorgeschlagen, einen Strukturwandel-Fonds für die Braunkohleregionen einzurichten und mit jährlich 250 Millionen Euro auszustatten. Die Gewerkschaft Verdi entwickelte im September ein Konzept dafür, Sozialplan-Kosten von jährlich mehreren hundert Mio. Euro für die von ihr vertretenen Kraftwerksbeschäftigten zu finanzieren.

Vor dem Verkauf des Vattenfall-Braunkohlegeschäfts hatte außerdem die Umweltorganisation Greenpeace ein Konzept für eine Stiftung vorgelegt, die den Kohleausstieg in der Lausitz und die Rekultivierung von Tagebauen und Kraftwerken übernehmen sollte. Ein verwandtes Stiftungskonzept entwickelte auch ein Konsortium aus der Bergbaugewerkschaft IGBCE und dem Kraftwerksbetreiber Steag. Beide Stiftungskonzepte kamen nicht zum Zug, könnten aber Denkanstöße für die finanzielle Absicherung des Braunkohle-Strukturwandels liefern.

Schwartzkopff hält es für notwendig, für den Kohleausstieg einen ähnlichen politischen Dialogprozess anzustoßen wie beim Atomausstieg im Jahr 2011, und so einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen. Diese Aufgabe könnte die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Regionalentwicklung“ übernehmen, die im aktuellen Klimaschutzplan der Bundesregierung angekündigt wird. Sie soll beim Bundes-Wirtschaftsministerium angesiedelt werden, Anfang 2018 die Arbeit beginnen und dann bis zum Jahresende ihre Ergebnisse vorlegen.